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Gebet half davor, in Verzweiflung zu stürzen

Gedenkstättenseelsorger Schmidinger geht in Ruhestand

München - Ludwig Schmidinger (65), katholischer Seelsorger an der KZ-Gedenkstätte Dachau, geht in den Ruhestand. Der Pastoralreferent wurde zum 1. März 2008 von Erzbischof Reinhard Marx zum Bischöflichen Beauftragten für Gedenkstättenarbeit im Erzbistum München und Freising ernannt. In dieser bundesweit einmaligen Funktion prägte er die kirchliche Erinnerungsarbeit weit über seinen eigentlichen Wirkungsort und über Konfessionsgrenzen hinaus. Schmidinger beendet seine Tätigkeit mit einem Gottesdienst am 8. August. Über die Nachfolge ist noch nichts bekannt.
In einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sprach sich der Theologe am Freitag dafür aus, KZ-Gedenkstätten für Lernerfahrungen zu nutzen. Ihr Besuch sollte zum festen Programm von Schulklassen gehören, aber niemand dazu gezwungen werden. „Wenn das gut vorbereitet ist durch die Lehrkräfte, können das Jugendliche gut verkraften.“
Angesichts des Aussterbens von Zeitzeugen hätten diese und die nächste Generation die Aufgabe, „Zeugen der Zeugen“ zu sein. „Das verändert die Wahrnehmung, wenn wir Geschichten erzählen, die nie unsere eigenen waren. Aber wir können noch sagen: Ich habe den gekannt und ihn noch selber gehört.“ Vom Einsatz sogenannter Avatare in der Erinnerungsarbeit hält Schmidinger nicht viel. „Da ist mir die Gefahr einfach zu groß, dass das dann als Fake und als manipulativ abgetan wird.“
Der Pastoralreferent bekannte, bei der Beschäftigung mit den Familienschicksalen von KZ-Häftlingen „gab es schon Momente, wo ich innerlich verstummt bin vor der Frage: Wie war das alles nur möglich?“
Zur Rolle der Religion in der NS-Verfolgung und der Erinnerungsarbeit sagte der Theologe, das Gebet habe in den KZs einige davor bewahrt, in die Verzweiflung zu stürzen. Das gehe aus überlieferten Zeugnissen hervor. „Selbst für die völlig Ausgemergelten war die Aussicht auf Geborgenheit in Gott jenseits des Todes etwas, das ihnen in aller Not Gelassenheit gegeben hat. Aber es gibt auch Überlebende, die sagen: Wie kann ich an einen Gott glauben, der mir meine ganze Familie genommen hat?“ Beides müsse man nebeneinander stehen lassen.
Der Pastoralreferent sagte, in seinen 13 Jahren in Dachau habe er auch deutlicher gelernt, dass die Kirche mit ihrer eigenen Geschichte kritischer umgehen müsse. Ihre Selbstaussage, heilig und sündig zugleich zu sein, dürfe kein Lippenbekenntnis bleiben. Dafür brauche es aber „eine neue, realistische Sicht und Darstellung“.
In Dachau befand sich das erste Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Es wurde zum Muster für alle anderen. Von 1933 bis 1945 waren in dem KZ insgesamt mehr als 200.000 Menschen aus 38 Staaten eingesperrt, darunter auch fast 2800 Geistliche, christliche, jüdische und muslimische. Mehr als 30000 Häftlinge kamen in Dachau um. Die Gedenkstätte wurde vor der Pandemie jährlich von rund einer Million Menschen besucht.
Seit 1960 befindet sich auf dem Lagergelände mit der Todesangst-Christi-Kapelle ein geistlicher Ort der Erinnerung, der auf Initiative des Münchner Weihbischofs Johannes Neuhäusler errichtet wurde. Neuhäusler war mehr als vier Jahre im KZ. Drei Jahre später kam ein Karmelitinnenkloster hinzu, danach auch eine evangelische Kirche, eine russisch-orthodoxe Kapelle und eine jüdische Gedenkstätte sowie weitere religiöse Mahnmale.

Autor: KNA