· 

Gott sucht unsere Nähe

Weihbischof Herwig Gössl: „Wenn ich vor den Krippe stehe, dann kann ich der Liebe Gottes zu uns Menschen auf die Spur kommen.“ Krippendarstellung in der Sonderausstellung „Max Huscher zum Andenken“ im Bamberger Diözesanmuseum.      Foto: Andreas Kuschbert
Weihbischof Herwig Gössl: „Wenn ich vor den Krippe stehe, dann kann ich der Liebe Gottes zu uns Menschen auf die Spur kommen.“ Krippendarstellung in der Sonderausstellung „Max Huscher zum Andenken“ im Bamberger Diözesanmuseum. Foto: Andreas Kuschbert

Liebe Leserinnen und Leser!

Ein Lied, das ich oft als Pfarrer bei vorweihnachtlichen Feiern hören durfte, hat mich immer sehr berührt. Es ist wohl ein älteres Volkslied, das ich nicht im Internet finden konnte und daher nur aus der Erinnerung zitieren kann. Der Kehrvers nach jeder Strophe lautete ungefähr: „Lieber Gott, gib mir Zeit, ich bin nicht soweit für die groß´ Freud, zu dei´m Sohn zu geh´n, bei der Kripp´n zu stehn.“ Zuerst sind die eingeladenen Hirten von Betlehem im Blick, aber in der letzten Strophe dann der Sänger selbst. Wir sind gemeint, ich bin gemeint und gerufen, zur Krippe zu kommen, wo sich das Unfassbare ereignet hat: Gott wird Mensch. Bin ich bereit dazu?
„Ich bin nicht soweit“
Die Ehrlichkeit dieser Aussage im Lied verblüfft und regt zum Nachdenken an: Bin ich denn soweit? Was muss überhaupt passieren, was alles getan und erreicht sein, damit ein Mensch sagen kann: Ich bin bereit, Gott zu begegnen? Grundvoraussetzung dafür ist sicher, dass ein Mensch überhaupt an Gott glaubt, an einen Gott, dem wir Menschen nicht egal sind, der jede und jeden einzelnen von uns kennt und dennoch liebt. Ein Gott, der unsere Nähe sucht und die Menschen in seine Nähe ruft, ohne sie unter Druck zu setzen oder zu zwingen.
Viele tun sich heute schwer mit diesem Glauben, mit diesem Gott, der so konkret werden wollte und dabei zur Zumutung wurde, weil in der Menschwerdung alle Göttlichkeit verborgen blieb.
Der Blick des modernen Menschen ist naturwissenschaftlich geschult. Was sich komplett unseren Sinnen verschließt, das ist zunächst einmal naturwissenschaftlich nicht fassbar. Man kann diesen Bereich dem Glauben zuordnen und vom konkreten Leben abtrennen, völlig unzugänglich für unseren Verstand und unsere greifbare Welt. Und das ist ja auch richtig: Kein Mensch wird Gott je begreifen, und auch nicht alle Menschen zusammen. Und dennoch sagt uns Weihnachten: Gott hat sich nicht an diese von uns Menschen entworfene Ordnung gehalten. Er ist nicht einfach in seinem Bereich geblieben, sondern er hat sich vielmehr auf den Weg gemacht zu uns und hat dabei eine unendliche Distanz überwunden. Bin ich bereit, das zu akzeptieren? Erst dann kann ich mich aufmachen zur Krippe; erst dann bin ich soweit.
Zu Christus gehen
Der Glaube fällt nicht in den Schoß, auch heute nicht. Ich darf nicht bequem sitzen bleiben oder auf meinem Standpunkt verharren, sondern ich muss mich aufmachen zu Christus hin. Das ist nicht abstrakt oder rein geistig zu verstehen, sondern sehr real: Christi Worte sind uns überliefert in der Heiligen Schrift. Ich kann sie lesen. Sie können mich bestärken und trösten, aber auch herausfordern. Ich kann mich an ihnen reiben, wo sie mich zum Widerspruch reizen. So trete ich in einen lebendigen Dialog mit Christus.
In der Feier der Sakramente verdichtet sich die Gegenwart Christi für uns. Ich kann sie feiern, mich auf die Feier vorbereiten und danach danken für dieses Geschenk seiner Nähe. Bei all dem bin ich auf dem Weg zu Christus.
In der gelebten Nächstenliebe begegnet mir Christus, wie er selbst gesagt hat: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Mt 25,40)
Viele Heilige der Nächstenliebe legen dafür Zeugnis ab: Martin, Nikolaus, Franziskus, Elisabeth, Mutter Teresa, um nur einige zu nennen. Wenn ich nicht zu ihm hingehe, dann werde ich ihn nicht finden. Wenn ich mich aber aufmache, meine Bequemlichkeit oder Voreingenommenheit überwinde, dann kann ich tatsächlich in die Nähe Christi kommen. Viele weihnachtliche Hirtengeschichten erzählen davon.
Bei der Krippe stehen
Wer Gott finden will, wird ihn nicht zuerst in einem Stall suchen. Die Armut und Schlichtheit stößt zunächst ab und verunsichert den Suchenden. Seit Menschen Götter verehren, stellen sie sich diese als groß und gewaltig, ehrfurchtseinflößend und unnahbar vor. Die Botschaft von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bringt diese Vorstellungen von Grund auf durcheinander. Was hat sich Gott nur dabei gedacht, als er genau diesen Weg eingeschlagen hat, diesen Weg in die Enge und in den Schmutz eines stinkenden Schafstalls?
Es gehört zu den schönen Traditionen der Weihnachtszeit, die Krippen zu besuchen. Ich kann das machen mit den Augen eines Ästheten und Kunstliebhabers, der die Figuren nach ihrem Alter und ihrem Wert taxiert. Oder ich kann mich vor die Krippe stellen mit genau dieser Frage: Was hat dich, Gott, dazu gebracht? Oder mit den Worten des hl. Bernhard von Clairvaux: Jesus, was hat dich so klein gemacht? Allein die Liebe!
Wenn ich vor den Krippe stehe, dann kann ich der Liebe Gottes zu uns Menschen auf die Spur kommen. Dann kann ich von dieser Liebe innerlich angerührt und bewegt werden. Gott macht sich in der Menschwerdung angreifbar und schwach. So ist vor ihm auch Platz für meine eigenen Unvollkommenheiten und Schwächen. Ich muss sie nicht ängstlich verstecken.
Wenn ich mit meinem Weg zu Gott erst warte, bis bei mir alles passt und perfekt ist, dann werde ich niemals losgehen und erst recht niemals ankommen. Gott macht durch sein Kommen in den Krippenstall deutlich: Ich muss nicht perfekt sein, um zu ihm zu gelangen. Ich darf mich zu ihm aufmachen, so wie ich bin, aber mit einer Sehnsucht im Herzen. So passe ich zu diesem menschgewordenen Gott.
Eine große Freude
Das verkünden die Engel in Betlehem den Hirten auf dem Feld. Die Weihnachtsfreude ist eine ganz tiefe Empfindung, die wir durch unser Leben tragen dürfen. Sie kommt nicht zustande durch große Geschenke oder üppige Festmähler, sondern durch die Erfahrung: Ich bin geliebt. Weihnachten ruft uns wieder neu in Erinnerung, dass wir alle von Gott geliebt sind. Keine äußeren Umstände können uns das rauben.
Es gibt – vielleicht gerade in diesem zu Ende gehenden Jahr – wenig objektive Gründe dafür, in Freude und Jubel auszubrechen. Viele Menschen machen sich große Sorgen und haben Ängste im Blick auf die Zukunft. Für immer mehr Menschen ist das tägliche Leben mit starken Einschränkungen verbunden durch den Krieg in der Ukraine und dessen Folgen wie Energiekosten und Nahrungsmittelengpässe.
Doch auch persönlich gibt es bestimmt jede Menge Erlebnisse, welche die Freude zurückhalten: Schmerzen, menschliche Enttäuschungen, Trauer um einem lieben Verstorbenen. Sicher fällt es manchen schwer, unter solchen Umständen Weihnachten zu feiern. So viele Erinnerungen kommen da hoch an frühere, unbeschwertere Feste. Und dennoch: Die Weihnachtsfreude will und kann uns erreichen, gerade in den schweren Situationen unseres Lebens. Weihnachten vermittelt uns Zuversicht, gerade dann, wenn wir in unserem Leben an Grenzen stoßen: die Grenze der Geduld, des Erträglichen, unserer Kraft, ja des Todes. In einem anderen, bekannteren Weihnachtslied wird diese Erfahrung des Glaubens mit folgenden Worten ausgedrückt: Welt ging verloren, Christ ward geboren. Freue dich, freue dich, o Christenheit!
Wann bin ich bereit, wann bin ich soweit, dem Sohn Gottes entgegenzugehen, mich der Liebe auszusetzen, die von der Krippe her in mein Leben leuchtet? Gott selbst hat die Distanz zwischen Himmel und Erde überwunden und er gibt mir die Zeit meines Lebens, um mich aufzumachen hin zu ihm – je eher, desto besser für mich. Denn in der Nähe Gottes geht es mir gut, und damit auch den Menschen, die um mich sind.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben von Herzen ein gesegnetes Weihnachtsfest, die tiefe Herzensfreude, die von ihm ausgeht, und Gottes Beistand und Ermutigung für das kommende neue Jahr 2023.

Ihr Weihbischof
Herwig Gössl