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„Kirche, bist du dabei?“

Rom (buc) – Im Mai pilgerte eine Gruppe von 15 Missbrauchsbetroffenen zehn Tage lang per Rad von Süddeutschland nach Rom. Das Motto der viel beachteten Tour, die vom Bayerischen Rundfunk mit der Kamera begleitet wurde: „Wir brechen auf! Kirche, bist du dabei?“ Auf dem Petersplatz trafen die Radfahrer Papst Franziskus, der sich mit ihnen unterhielt und einen Brief sowie ein Geschenk entgegennahm: eine kleine Version des Kunstwerks „Heart“ von Michael Pendry.

 

Einer der Teilnehmer war Hans Dull. Der 75-Jährige stammt aus dem Erzbistum Bamberg, wuchs im Hirschaider Ortsteil Friesen auf. Ein Mann wie ein Baum kommt da zum Gespräch in die Redaktion des Heinrichsblatts, offen und humorvoll, auf seiner Visitenkarte steht „angeblich Rentner“. Ein Mann wie ein Baum, aber was heißt das, wie ein Baum? Was passiert mit einem Baum, der kein Wasser bekommt, dessen Wurzeln mutwillig beschädigt werden, in dessen Stamm die Axt saust? Wie lange steht der Baum dann noch?

 

Die Tour wurde vom Betroffenenbeirat der Erzdiözese München und Freising organisiert. In der Landeshauptstadt, wo auch Dull seit langem zu Hause ist, starteten die Radwallfahrer und fuhren über Wolfratshausen und Bad Tölz zum verregneten Brenner. Dort stürzte Hans Dull, der Probleme mit den Augen hat, vom Rad und verletzte sich am Knie. „Ab Sterzing bin ich im Begleitfahrzeug mitgefahren,“ erzählt er. Kurz vor Rom saß er aber dann wieder auf seinem E-Bike.

Die Teilnehmer machten auf ihrer Tour die unterschiedlichsten Erfahrungen. Der Austausch untereinander war sehr wichtig. Im Abt von Schäftlarn begegnete man einem Menschen, der von der Prävention in seinem Kloster berichtete und plötzlich nicht mehr wie ein „Kirchenfürst“ wirkte. In Bozen gesellte sich Kardinal Reinhard Marx zu den Radfahrern, gab sich, leutselig und verständnisvoll, doch nicht in allem war man einer Meinung.

 

In Trient gab es dann den ersten „Zoff“, wie Hans Dull berichtet. Der dortige Bischof redete beim Abendessen über viele Dinge, nur nicht über Missbrauch. Als ihn Richard Kick vom Münchner Betroffenenbeirat nachdrücklich auf die Motivation der Reise hinwies, entschuldigte sich der Geistliche. Auch in Assisi sorgte ein Kirchenmann für Stirnrunzeln. Recht schnoddrig und unpersönlich handelte ein deutschsprachiger Franziskanerbruder dort das Thema ab („Das kann schon mal passieren“).

 

Bewegend und faszinierend waren hingegen die Begegnungen in Verona, wo viele Teilnehmer bei der Begegnung mit den örtlichen Geistlichen zu weinen begannen und auch Hans Dull einen Zusammenbruch erlitt, sowie vor allem in Castel di Lago bei Terni. Beim Abendessen dort, die Stimmung war heiter, stellt sich ein Kellner vor, vielleicht 35 Jahre alt, bedankt sich für den Mut der Gäste: „Ohne euch könnte ich das jetzt nicht sagen. Ich bin selbst vom örtlichen Priester missbraucht worden.“ Die Gruppe sei wie erschlagen gewesen, doch jeder spürte: Die Reise hat sich bereits gelohnt.

 

Schließlich erreichten die Radpilger ihr Ziel Rom, nahmen an der Generalaudienz auf dem Petersplatz teil und wurden dem Papst angekündigt. Franziskus habe sich in seinem Rollstuhl umgedreht, schildert Hans Dull, und zunächst wie versteinert geschaut. Dann sei er aufgestanden und habe sich mit der Gruppe unterhalten. „Er war sehr berührt. Diese Betroffenheit war zutiefst menschlich.“

 

Wenn Hans Dull erzählt, macht er gelegentlich Pausen, holt Luft, wendet das Gesicht ab. Doch es sind nicht die Tränen, die dem, was er sagt, Gewicht geben. Gewicht hat, wie er es sagt, wie er spricht über das, was ihn nicht loslässt, wie er schweigt über das, was ihn festhält. In seiner Kindheit ist er regelmäßig verprügelt worden, von seiner eigenen Mutter, vor allem aber von Geistlichen: von einem Karmeliten im Marianum in Bamberg, von einem Franziskaner im Kloster Freystadt. Der Benefiziat von Buttenheim bei Forchheim verprügelte ihn einmal so stark, dass er vier Wochen im Bett lag.

 

Geheult und getrunken

 

Hans Dull ist Polizist geworden, war lange in München berufstätig, er legte sich neben dem echten ein falsches Lachen zu, er hat geheult, getrunken, seine Frau warf ihn raus, er durchlief Psychotherapien, wurde frühpensioniert. Er wusste lange nicht, was mit ihm los war. Als er es wusste, kämpfte er um Anerkennung. Suchte sich Verbündete. Eine Frau aus dem Steigerwald erzählte ihm, sie sei mit neun vom Pfarrer entjungfert worden: „Ich habe das alles einbetoniert.“

Seinen Glauben hat er nicht verloren. „Gott und Maria haben mich unterstützt in den vergangenen Jahren“, so Dull. Der Grundgedanke der Kirche, die Nächstenliebe, sitzt in ihm fest. Daran ändert auch nichts, dass die hohe Geistlichkeit um Verständnis für die Täter wirbt, ihm 40 Postkarten mit dem Spruch „Schön, dass es dich gibt“ zukommen lässt, er empfindet das als Hohn, oder dem Kontakt auszuweichen versucht: „Das hätte doch meine Sekretärin erledigen sollen“, sagt ein Bamberger Kirchenfürst zu Dull.

 

Die BR-Doku über die Radpilgerreise ist unter www.ardmediathek.de zu sehen (Stichworte „Stationen“ und „Missbrauch“).