
Erlangen (buc) – Die Fülle des Lebens, gezeichnet von jungen Menschen, Kindern noch, Schülerinnen und Schüler vor einem Jahrhundert: Straßenszenen, Gebäude, Naturdarstellungen wie Bäume oder ganze Wälder, immer wieder Tiere aller Art. Aber auch abstrakte oder ornamentale Motive, in allen denkbaren Farben und Formen, mit einer bemerkenswerten Präzision und teils ironischer Brechung zu Papier gebracht, die das Betrachten zu einem Erlebnis machen und erstaunen lassen angesichts dieser Kunstfertigkeit und Ausdruckskraft.
UN-Weltdokumentenerbe
Zu sehen sind die Zeichnungen, eine Auswahl aus der 4500 Blätter umfassenden Sammlung Daiber, bis März im Stadtmuseum Erlangen. Ein Jahrhundert nach der Entstehung wird eine Auswahl der Werke von Mädchen und Jungen aus der damaligen Volksschule Stein bei Nürnberg erstmals öffentlich gezeigt – und das nur wenige Monate, nachdem sie gemeinsam mit 16 weiteren internationalen Sammlungen ins UN-Weltdokumentenerbe aufgenommen wurden.
Wilhelm Daiber (1888-1963) war ein reformorientierter Pädagoge, der in der Weimarer Republik dem Drill in den Schulen der vergangenen Kaiserzeit mit fortschrittlichen Ideen begegnen wollte. Sein Ziel war es, den Schülerinnen und Schülern nicht bloßes Wissen einzutrichtern, sondern sie zu Persönlichkeiten zu entwickeln. Er animierte die Mädchen und Jungen, die oft nur harte häusliche Arbeit gewohnt waren und nie oder nur selten gezeichnet hatten, über Jahre hinweg mit innovativen Methoden, sich künstlerisch zu betätigen. Die Bilder entstanden in den Jahren 1924 bis 1929. Daiber hat sie sorgsam aufgehoben, analysiert und später sogar ein Buch darüber geschrieben.
Die Zeichnungen seien „mit Liebe und Detailfreude“ entstanden, betont Museumsleiterin Brigitte Korn. Mathias Rösch, Leiter des Nürnberger Schulmuseums, in dem die Sammlung Daiber seit den 1980er Jahren verwahrt wird und der die Ausstellung kuratiert hat, unterstreicht die kreative Kraft, die den Kunstwerken innewohnt: Angeleitet von Daiber, sei es den Kindern nicht darum gegangen, Dinge schlicht „abzukupfern“, etwa einen Gockel oder einen Wald. Sie sollen mit Fantasie und Hingabe malen – aus sich heraus darstellerische Lösungen finden, ohne sich allzusehr an Vorlagen festzuhalten.
Teils sind die Aufgabenstellungen des Reformpädagogen handfest und bodenständig, er animiert die Schülerinnen und Schüler etwa, eine Straßenszene zu zeichnen, eine Lokomotive oder eine alte Bäuerin. Die Themen können aber auch vollkommen abstrakt sein: Wie bringen zehn- oder zwölfjährige Kinder einen Ausdruck wie „herzergreifend“ zu Papier? Man sieht den Ergebnissen an, dass es Daiber nicht darum ging zu werten: Ist es schön oder nicht schön? Er setzt auf Wertschätzung, auf Respekt, er will den Kindern die Botschaft vermitteln: Du kannst es.
Die vor einem Jahrhundert entstandenen Bilder, denen man zum Teil auch das Trauma des Ersten Weltkriegs ansieht, waren lange Zeit unbeachtet geblieben, erst spät wurden sie von der Wissenschaft wiederentdeckt – und bieten nun ein einzigartiges Forschungsfeld für Kunsthistoriker, Pädagogen, Volkskundler und Schulhistoriker. In der Erlanger Schau ist verständlicherweise nur ein kleiner Ausschnitt aus Daibers Konvolut zu sehen, weitere Bilder lassen sich durch ein Touchpad sichtbar machen. Zum Schluss dürfen die Besucher die Frage beantworten: „Wie war Ihr eigener Kunstunterricht?“
Einen eigenen Komplex in der Sammlung machen religiöse Darstellungen aus, darunter eine beträchtliche Anzahl von Christusdarstellungen. Im Stadtmuseum bleiben diese ausgespart – Mathias Rösch möchte aus ihnen in absehbarer Zeit ein eigenes Ausstellungsprojekt machen.
