Tel Aviv (KNA) – Die Uhr läuft. Kurz nach Mitternacht zeigen die digitalen roten Ziffern auf dem seit zwei Jahren als Geiselplatz bekannten Museumsvorplatz im Zentrum von Tel Aviv 736:18:39:12 - Tage, Stunden, Minuten, Sekunden seit dem Hamasangriff des 7. Oktober 2023. Hunderte Menschen auf dem Platz und ein ganzes Volk hoffen, dass die Uhr endlich stoppt. Tag 738 soll zu dem Tag werden, an dem auch die letzten 48 Geiseln aus dem Gazastreifen nach Israel zurückkehren, so will es das Abkommen zwischen Israel und der Hamas, das am Freitag in Kraft getreten ist. Stunden harren sie aus, bis die ersten Geiseln die Grenze nach Israel überqueren.
Gedämpfte Musik klingt über den Platz. Die Beatles-Klassiker "Let it be" und "Imagine" singen von Trost in schweren Zeiten, von einer besseren Welt. Die Menge singt leise mit, hält sich im Arm. Hier und da fließen Tränen. Bei anderen macht sich die Freude über die bevorstehende Geiselrückkehr in Tänzen zu skandiertem "Am Israel Chai", das Volk Israel lebt, Luft. Vor einem Stand, der zu einer Virtual-Reality-Erfahrung "Durch die Augen der Geiseln" einlädt, bilden sich die ganze Nacht Schlangen.
Fahnenmeer
Um kurz nach vier, oder nach 736 Tagen und über 22 Stunden, drehen die Lautsprecher auf. Lieder der Sehnsucht und des Heimkommens begleiten Videoclips mit Aufnahmen der Geiseln auf dem zentralen Bildschirm. Der Platz füllt sich. Mit Menschen, mit Pappschildern der inzwischen vertrauten Gesichter der Geiseln, auf deren Rückkehr sie hier warten. Mit Fahnen, die um die gelbe Solidaritätsschleife für die Geiseln ergänzte israelische und US-amerikanische.
Martina Schwarz schwenkt neben der israelischen die deutsche Fahne. "Wir beten seit langem für Israel. Wir sind hier, um den Israelis zu zeigen, dass es Menschen gibt, die zu ihnen stehen", sagt die Christin aus der Nähe von Stuttgart. Eigentlich hatten ihr Mann und sie Urlaub geplant, "aber das zu erleben, mit den Menschen zu weinen und hoffentlich bald auch zu lachen, berührt sehr". Berührt seien auch die Menschen vor Ort von der Geste, sagt Schwarz, die der "hässlichen Fratze des Antisemitismus, die sich immer weiter ausbreitet", ein anderes Gesicht entgegenhalten will.
Erster Jubel
Drei Minuten vor Beginn des Tags 738 bricht kurz Jubel auf dem Platz aus. Die Angehörigen der Geiseln, heißt es aus den Lautsprechern, haben sich nach Re'im im Grenzgebiet zu Gaza aufgemacht, wo die Geiseln nach ihrer Freilassung eintreffen sollen. Die Uhr läuft weiter, die Fahnen bewegen sich im Takt zu "Habaita" (Nach Hause), dem den Geiseln umgewidmeten Protestsong der israelischen Sängerin Yardena Arazi gegen den ersten Libanonkrieg Anfang der 80er Jahre.
6:27 Uhr, der Nachthimmel ist längst dem ersten Licht gewichen. Mit heiserer Stimme befeuert jemand die Menge mit dem Ruf, der seit zwei Jahren Demonstrationen, Aufkleber und die schwarzen T-Shirts des "Forums der Geisel- und Vermisstenfamilien" dominierte: "Nach Hause - alle - jetzt!" An diesem Tag sind neue T-Shirts hinzugekommen, weiß, mit dem Aufdruck "Sie sind jetzt zuhause", in Erwartung der erlösenden Nachricht. Die Kreppstreifen, die Freiwillige an die Hemden der Versammelten kleben, zählen nicht mehr die Tage. "Sie kommen zurück", heißt es auch hier.
An dem T-Shirt habe er nicht vorbeigehen können, sagt Benji aus Tel Aviv, als Unterstützung für die Angehörigen und ihren Kampf, und als Erinnerung. "Dies ist ein Tag, den niemand vergessen wird", so der US-Israeli.
Hoffen auf Schritte Richtung Frieden
Die Geschichte dürfe aber nicht an dem denkwürdigen Tag der Freilassung der Geiseln stehenbleiben, sagt die Tel Aviverin Dalia, in der Hand ein Pappschild der Friedensorganisation "Frauen wagen Frieden". "Frieden wird es nicht morgen geben, bis dahin ist es ein langer Weg. Aber vielleicht gibt es jetzt ein kleines Fenster, und vielleicht können uns US-Präsident Donald Trump und Europa auf den Weg bringen", sagt sie. Dafür brauche es den Wiederaufbau des Vertrauens, das auf beiden Seiten verloren gegangen sei. Vor allem aber müsse verhindert werden, dass der Rechtsruck und der Ruck in Richtung Religion auf beiden Seiten aus dem Territorialkonflikt einen Religionskrieg machten. Dalia bleibt verhalten optimistisch. "Große Desaster können zu entscheidendem Wandel führen."
Für den Moment aber treten auf dem Geiselplatz alle Gedanken an Morgen in den Hintergrund. Aus den Hunderten in den frühen Morgenstunden sind laut Veranstalterangaben inzwischen 65.000 Menschen geworden. Die Menge fiebert im Jetzt den entscheidenden Minuten entgegen. Das Rote Kreuz in Gaza, die Geiseln in den Händen des Roten Kreuzes, das Rote Kreuz im Kontakt mit der israelischen Armee: Immer wieder ertönt Jubel, hält die Menge den Atem an. Um 9:36 Uhr (Ortszeit) dann ein großes Aufatmen. Die ersten sieben Geiseln, unter ihnen drei der vier noch lebenden Deutsch-Israelis, sind zurück auf israelischem Boden. Nach ersten Berichten geht es ihnen den Umständen entsprechend gut.