Kinderheime waren laut Studie "Hotspots"

Mannheim / Speyer (KNA) – Es ist eine rund 473 Seiten umfassende Analyse von Strukturen, die sexuellen Missbrauch im Bistum Speyer ermöglicht und dessen Aufdeckung nicht verhindert haben: Fehlende Machtkontrolle und autoritäre Amtsausübung haben laut der neuen Studie jahrzehntelang Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter ermöglicht. „Die kirchlichen Strukturen haben die Straftaten maßgeblich begünstigt“, heißt es in der am 8. Mai vorgestellten ersten Studie zu Missbrauch im Bistum Speyer. 

 

Die unabhängige Untersuchung wurde von Wissenschaftlerinnen der Universität Mannheim erarbeitet. „Mitverantwortlich für das Verschweigen von Missbrauch und die langjährige Verhinderung von Prävention dürfte zudem die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche sein“, sagte die Historikerin und Studienleiterin Sylvia Schraut. Die Untersuchung hat Personalakten und weitere Aufzeichnungen des Bistums für die Zeit von 1946 bis in die Gegenwart ausgewertet und kommt so zu einer Gesamtzahl von 109 Priestern und 41 Kirchenmitarbeitern, die des Missbrauchs oder sexueller Übergriffe beschuldigt wurden. 

 

Die Forscherinnen gehen von einer Dunkelziffer, also von weiteren, bislang nicht bekannten Fällen aus. Die Hälfte der Missbrauchstaten geschah laut der Studie in den 1950er und 1960erJahren, danach ging die Zahl der Fälle zurück.

Als einen „Hotspot“ für Übergriffe bezeichnet die Studie kirchliche Heime für Kinder und Jugendliche. Dort hätten Kleriker und andere Berufsgruppen jahrelang ein „Betriebsklima“ vorgefunden, „das sexuelle Übergriffe erleichterte“, heißt es in der Studie. Beispielsweise kam es in einem früheren Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse zu Missbrauch und Gewalt. „Unter den 41 beschuldigten Nichtklerikern sind auch Nonnen“, sagte Schraut. „Die von Rom gestützte Autonomie der Orden ermöglichte geistliches Handeln im Bistum weitgehend ohne Kontrolle“, betonte Schraut. „Das Aufsichtsverhältnis in der Zusammenarbeit von Orden und Bistum ist bis heute nicht befriedigend gelöst.“

 

Die Universität Mannheim kündigte an, innerhalb des auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts 2027 einen zweiten Bericht zu veröffentlichen. Darin soll es um konkrete und detaillierte Fallanalysen gehen. 

 

Bernd Held, Vertreter des Betroffenenbeirats im Bistum Speyer, sagte,die Studie habe Strukturen herausgearbeitet, die sexuellen Missbrauch ermöglicht hätten. „Meine Bitte an die Bistumsleitung ist: Dass diese Strukturen aufgebrochen werden, damit Missbrauch in dieser Form nicht mehr stattfinden kann.“ 

 

Der Speyerer Generalvikar Markus Magin sagte bei der Pressekonferenz, die Studienergebnisse seien „sehr belastend, zuerst für die Betroffenen, aber auch für mich als einem Verantwortlichen des Bistums Speyer heute“. Es habe in der katholischen Kirche inzwischen jedoch „Entwicklungsschritte der Veränderung“ gegeben, betonte Magin und fügte hinzu: „Wir sind eine lernende Institution.“ Ziel sei, dass Missbrauch in der Kirche „nicht mehr passieren“ dürfe. „Kirche muss ein sicherer Ort sein“, sagte Magin. „Die Menschen müssen wissen: Da geht es mir und meinen Kindern gut.“ 

 

Das Bistum Speyer ist eine der ältesten deutschen Diözesen. Sie zählt rund 437 000 Katholiken und umfasst die Pfalz im Bundesland Rheinland-Pfalz und den Saarpfalz-Kreis im Saarland. Im Zuge der Französischen Revolution und der napoleonischen Wirren wurde die Diözese neu geordnet und 1817 im linksrheinischen Gebiet des damaligen Königreichs Bayern neu errichtet. Das ist der Grund dafür, dass der Bischof von Speyer bis heute Mitglied der Freisinger Bischofskonferenz in Bayern ist. Seit 2008 amtiert Karl-Heinz Wiesemann als Bischof der Diözese.