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Historiker: Papst will keine Türen zuschlagen im Ukraine-Krieg

Augsburg/Vatikanstadt (KNA) – Der Augsburger Theologe und Kirchenhistoriker Jörg Ernesti hält die Kritik an den diplomatischen Aktivitäten des Papstes im Ukraine-Krieg für nicht gerechtfertigt. Dass Franziskus sich mit "Anklagen gegen den Aggressor und seine Helfer" zurückhalte, entspreche der Tradition des Vatikan, sagte Ernesti in einem am Dienstag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): "Würde man eine der Kriegsparteien verurteilen, wäre an eine Friedensvermittlung nicht mehr zu denken. Ich persönlich bin überzeugt, dass der Papst hier nicht die Türen zuschlagen möchte."

Im Vergleich zu früheren Kriegen entfalte der Vatikan im Moment sogar eine "schon fast fieberhafte Aktivität", so Ernesti weiter. Der Papst habe schon zweimal mit dem ukrainischen Präsidenten telefoniert und habe zwei enge Mitarbeiter in das Land entsandt. Auch habe Kardinalstaatssekretär Parolin mit dem russischen Außenminister Lawrow telefoniert.

"Aber gegen den Willen des Moskauer Patriarchen wird der Papst nicht ins Spiel kommen", fügte der Kirchenhistoriker hinzu: "Vielleicht bietet gerade der Einsatz des Heiligen Stuhls, der keine eigenen politischen oder wirtschaftlichen Interessen hat, für beide Seiten eine gute Möglichkeit, gesichtswahrend aus dem Konflikt herauszukommen."

Auf die Frage, ob Franziskus die Einladungen von Präsident Selenskyj und der Klitschko-Brüder zu einer Reise in die Ukraine annehmen werde, sagte Ernesti: "Ich persönlich glaube, dass er sicher gerne nach Kiew fahren würde. Aber solange noch eine Chance für eine Friedensvermittlung besteht, wird er von einem Besuch absehen. Denn seine Anwesenheit in Kiew würde in Russland sicher als Parteinahme zugunsten der Ukraine gedeutet."

Zur Videokonferenz des Papstes mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill erinnerte der Theologe an Papst Johannes Paul II.. Dieser habe gewusst, "dass Religionen Unfrieden stiften können – er war aber auch überzeugt, dass sie ein ganz starkes Friedenspotenzial entwickeln können".

Daran habe Franziskus erkennbar angeknüpft, als er Kyrill um ein Gespräch gebeten habe: "Der Patriarch ist inhaltlich überhaupt nicht auf die vatikanische Linie eingeschwenkt, insofern er den Krieg nicht eindeutig verurteilt hat. Aber das Gespräch hat schon darin seinen Wert, dass es überhaupt stattgefunden hat."